Es war einer jener seltenen Tage, an denen mich die Unordnung auf dem großen Esszimmertisch aus einem unbekannten Grund störte. Normalerweise war der Tisch mit Zeitschriften, Schriftstücken, allerlei Krimskrams und ein paar Brotkrümeln als Überrest der letzten Mahlzeit übersät. Und das war meine Art von Gemütlichkeit, und keine Frau wohnte zurzeit dauerhaft hier, um dieses Durcheinander zu bemängeln. Aber heute, draußen war es eisig kalt und es schneite, heute wollte ich diesem Chaos zu Leibe rücken.
Im Fernseher, der im Hintergrund lief, hatte eine dem ersten Anschein nach wissenschaftliche Dokumentation über die Sintflut begonnen. Fast jeder kennt die Geschichte von Noah und seiner Arche, und die des strafenden Gottes, der die sündigen Menschen und alle Tiere in einer imposanten Flut ersaufen lässt.
Na, ob die Menschen heute besser darauf sind? Wohl nicht. Und wenn dieser Gott, inzwischen auch Gott der Christenheit, noch einmal so jähzornig reagiert? Vielleicht hat mein Nachbar bessere Informationen zu diesem Thema als ich. Seit ein paar Tagen steht eine kleine Segeljacht auf seinem Grundstück – ohne Trailer, weit weg vom nächsten Gewässer. Nun ja, seine Frau und die Kinder kann er noch an Bord nehmen, aber schon bei seinem großen Hund wird’s schwierig, den Rest der Fauna, dann auch noch paarweise – unmöglich. Dann muss sich das Leben nach der neuen Flut halt wieder neu aus dem Ozean entwickeln. Oder überlebt das Meeresgetier ein solches Endzeitszenario gewöhnlich auch nicht?
In diesem Fall werden eben die freien ökologischen Nischen von den Nachkommen meines segelnden Nachbarn besetzt, wie auf Galapagos durch die Darwin-Finken. Ästhetisch wird das sicher nicht der „Bringer“, wenn ich mir meinen Nachbar so vorstelle. Aber immerhin wird in den „Nischen“ dann die Kehrwoche eingehalten.

Trotzdem werde ich jetzt den Tisch von unnützen Dingen befreien. Eventuell bringt mir das beim Jüngsten Gericht oder einer neuen Sintflut mildernde Umstände. Müßiggang ist bekanntlich aller Laster Anfang. Wenn nicht, liegt für meine Rettung draußen im Schuppen ein altes Kanu, welches mich einige Zeit über Wasser halten könnte. Und wo ist eigentlich meine Schwimmweste? Hab’ ich ausreichend Konserven gebunkert? Darum kümmere ich mich nach dem Aufräumen!!

Die Doku ist etwas reißerisch aufgebaut, und das im ZDF-Dokukanal – die Privatsender färben langsam ab. Welche Kompetenz hat Reinhold Messner, der gerade zum Thema interviewt wird, außer dass er wie der junge Moses vor dem Erhalt der Gesetzes-Tafeln in einem 60er-Jahre Monumental-Film aussieht. Während ich meine Zeitschriften thematisch und chronologisch ordne, wird die Sendung langsam doch recht interessant. Da die große Flut in vielen altertümlichen Mythen mit biblischem Inhalt vorkommt, vermuten die Filmemacher einen wahren Kern. Ob meine Zeitschriften, die vor mir liegen, auch in ein paar tausend Jahren von Forschern gelesen werden, wie die Ton-Tafeln mit sumerischer Keilschrift, die das Gilgamesch-Epos beschreiben. Sicher nicht, Ton-Tafeln sind länger haltbar als Hochglanz-Computer-Magazine mit DVD-Beilage. Dann bleiben die Windows Vista-Tipps[1] halt für immer ungelesen, ich hatte bisher nämlich auch noch keine Muße dafür und Vista werde ich ohnehin nicht auf meinen Computern installieren.
Schon wieder Messner im TV, hört sich sogar plausibel an, was er sagt. Er hält die angeblich aus der Arche stammenden und im Gletscher am Ararat gefundenen Holzstücke für Überreste von menschlichen Behausungen aus eisfreien frühen Zeiten. Okay, die Ursache der Sintflut im Bereich des Schwarzen Meeres wird hier schlüssig als Auswirkung des Anstiegs des Meeresspiegels nach der letzten Eiszeit beschrieben. Das mit dem Rettungsboot kann ich jetzt glücklicherweise vergessen. Und mein Nachbar wird auch nie das Missing Link der Lebewesen vor und nach der Flut werden, auch beruhigend. Oder bin ich zu leichtgläubig? Was ist mit dem Rest der biblischen Geschichten; die wären dann auch auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. So etwas befürchten wohl auch einige der Zeitgenossen, die jetzt noch zu Wort kommen. Die Bibel ist ihrer Ansicht nach wörtlich zu nehmen und mit allerlei, zugegeben von mir nicht ganz so leicht nachzuvollziehenden Argumenten versuchen sie diese Meinung zu untermauern. Klingt mehr oder weniger lächerlich.
Was soll ich jetzt glauben, wer steht näher bei der Wahrheit? Reinhold Messner oder die orthodoxen Priester? Was ist überhaupt Wahrheit und was soll das Ganze überhaupt? Gleich wird mir schwindelig. Das Chaos in meiner Wohnung ist nichts im Vergleich zum Chaos in meinem Kopf. Ich werde mir jetzt erst mal was zu essen machen.
[1] Für die Jüngeren unter den Lesern: Das Betriebssystem Windows Vista ist der Nachfolger von Windows XP und der Vorgänger von Windows 7, 8, 10 und 11 (Stand 1/2025). Windows Vista wurde im November 2006 von Microsoft zunächst nur für Geschäftskunden veröffentlicht und war ab Ende Januar 2007 auch für Privatkunden erhältlich. ↩︎