20250721_152329-1-1024x473 Gesunder Menschenverstand: Wenn das Bauchgefühl uns in die Irre führt

Das Wetter ist regnerisch und für Anfang August viel zu kühl. So habe ich Zeit, meine Gedanken in mein Notebook zu tippen, hilfreich unterstützt mit den diversen KI-Tools, die kostenlos zur Verfügung stehen. Das hilft mir ungemein, denn alle Quellen zu recherchieren, benötigt viel Zeit. Zudem unterstützt mich die Rechtschreibprüfung beim Korrigieren. Das bedeutet aber nicht, dass ich kritiklos die Vorschläge der KI übernehme. Nur, was ich kenne, (größtenteils) verstehe und als richtig bewerte, benutze ich für mein vorliegendes Essay. Und dass das Wetter schlecht ist, bietet mir auch einen guten Einstieg ins Thema, denn häufig wird das Wetter mit dem Klima gleichgesetzt und das aktuelle Wettergeschehen als Argument für oder gegen den Klimawandel verwendet, je nach Standpunkt. Das ist natürlich wenig zielführend, es sei denn, das eigene Wissen ist tief in der Attributionsforschung verankert und man kann dadurch einzelne Geschehnisse in den großen Gesamtkontext einordnen. Aber jetzt zu meinem eigentlichen Anliegen.

Stammtischweisheiten

Donnerstags treffe ich mich gegen Abend mit meinen Kumpels, alles Motorradfahrerinnen und Motorradfahrer, zu einem geselligen Stammtisch. Wir leben im nördlichen Teil von Baden(-Württemberg) auf dem Lande, und so sind alle Bevölkerungsschichten, die am Dorfleben teilnehmen, vertreten. Allerdings ist die „Boomer-Generation“ aktuell überrepräsentiert und damit sind die meisten Themen vorbestimmt. So sind vorwiegend mehr oder weniger konservative, teilweise auch schon sehr rechtslastige, aber auch wenige „links-grün versiffte“ Zeitgenossen an unserem Stammtisch beteiligt. Eine bunte Mischung, die jeden Donnerstag eine häufig aufgeregte, aber immer interessante Diskussion garantiert. An den „weltrettenden“ Debatten habe ich aber in letzter Zeit immer weniger beitragen können und recht stumm dem Austausch der Argumente oder den allseits aufschaukelnden Gesprächen beigewohnt. Häufig werden dann die Inhalte von witzigen Satire-Beiträgen mit einer fundierten Recherche und wissenschaftlich beweisbaren Tatsachen verwechselt – wer die Lacher auf der Seite hat, hat nach deren Logik auch recht. Natürlich treffen einige Satiriker den Nagel auf den Kopf, was dann, wie ich finde, besonders erfreulich ist.

20250721_151339-2-473x1024 Gesunder Menschenverstand: Wenn das Bauchgefühl uns in die Irre führt

Da kam eine Meinung zu den zunehmenden Bürgergeldzahlungen auf, dass das doch als fleißiger Steuerzahler und Rentner nicht mehr hinnehmbar sei. Bevor ich mein „Aber, man sollte doch bedenken, dass …“ sagen konnte, kam schon ein weiterer Einwurf, der mit dem ersten zwar relativ wenig zu tun hatte, aber „die EU als Wurzel alles Übels“ brandmarkte. Und schon wurden meine Gedanken wieder in eine andere Richtung gelenkt, weil ja schließlich „die Ampel alles versemmelt hat“ und „die Klimaretter ohnehin alle nicht ganz klar im Kopf sind und mit ihrer Panikmache zusammen mit Habeck und den Grünen die deutsche Autoindustrie in den Abgrund getrieben haben“. Ich konnte nur noch zuhören und war relativ schnell überfordert, ob all der Wortbeiträge und der Sicherheit der Redner über die Richtigkeit ihrer Argumente. Früher hätte ich eifrig „mitgestritten“ und wäre mir über die Klugheit meiner Aussagen sehr sicher gewesen, gleichzeitig aber erstaunt, weil fast niemand meiner Argumentation folgen wollte. Warum steige ich heute bei solchen Gesprächen häufig schnell aus, wo ich doch meinen Ruf als Besserwisser nicht mehr loswerde?

Zwei Podcasts zum Artikel (KI-erzeugt: NotebookLM)

Für alle, die zu bequem zum Lesen sind oder die sich einen kurzen Überblick pointiert erhalten wollen.

Der zweite Podcast ist, finde ich, auch gut gelungen. Die KI hat allerdings einen Fehler gemacht, der eigentlich ziemlich wesentlich ist. Vielleicht findest du ihn. Dazu solltest du aber meinen Text gelesen haben oder schon tiefer in der Thematik stecken.

Video zum Thema, ebenfalls KI-generiert

Der gesunde Menschenverstand

Wir vertrauen alle darauf, dass unser gesunder Menschenverstand uns sicher durch den Alltag leitet. Doch die Psychologie hat gezeigt: Gerade das, was sich so natürlich und einleuchtend anfühlt, ist oft ein Trugschluss. Nobelpreisträger Daniel Kahneman brachte es treffend auf den Punkt: „Gerade noch hatte der Mensch als rational gegolten, aber dann kam Kahneman. Und alles war ganz schön anders“ [1]. Gemeint ist: Kahneman und sein Kollege Amos Tversky entlarvten zahllose Denktäuschungen und Automatismen („Heuristiken“), die unser vermeintliches Bauchgefühl dominieren. Ihre Studien zeigten immer wieder irrationale Entscheidungsfehler – Ergebnisse, die „tiefe Zweifel am gesunden Menschenverstand“ weckten [2]. Anders gesagt: Was sich intuitiv vernünftig anfühlt, ist es oft gerade nicht.

Das Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Kahnemann ist ein dicker Schmöker, aber die Lektüre lohnt sich. Ich hab’s mir als Hörbuch angetan, das ist zumindest „leichtere Kost“ als die schwere, gebundene Ausgabe. Vielleicht hat sich dadurch meine Denkgeschwindigkeit verlangsamt, oder „meine lange Leitung“ liegt doch am Alter und ich werde einfach „immer blöder“, sprich, mein Gehirn ist einfach nicht mehr gut in Form und ich bin oft nur noch ein anscheinend passiver Zuhörer. Sei, wie es will, noch denke ich überhaupt etwas.

Der Nobelpreisträger Kahnemann unterscheidet, wie der Titel des Buchs bereit vermuten lässt, zwischen zwei Systemen unseres Denkens:

  • System 1 ist das schnelle, intuitive und automatische Denken. Es arbeitet mühelos, trifft sofortige Entscheidungen und ist die Heimat unseres „gesunden Menschenverstands“. Es ist extrem nützlich im Alltag, wenn wir schnell auf eine Situation reagieren müssen (z. B. einem Ball ausweichen).
  • System 2 ist das langsame, anstrengende und logische Denken. Es erfordert Konzentration, ist zuständig für komplexe Berechnungen und die Reflexion über unsere eigenen Annahmen.

Das Konzept des „gesunden Menschenverstands“ genießt in unserer Gesellschaft hohes Ansehen. Er gilt als zuverlässiger innerer Kompass, der uns in komplexen Situationen den richtigen Weg weist, eine Art intuitive Weisheit, die jenseits von Fachwissen und formaler Bildung steht. „Das sagt mir doch mein gesunder Menschenverstand“ ist ein Satz, der oft in unseren Diskussionen wie ein unumstößliches Argument verwendet wird, um eine Sache als offensichtlich und richtig zu deklarieren. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich: Dieser angebliche Kompass ist oft fehlerhaft, irreführend und das Gegenteil von rationalem Denken. Die Wissenschaft hat uns in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass der „gesunde Menschenverstand“ eine Illusion ist, die uns zu Selbstüberschätzung und fatalen Fehleinschätzungen verleitet.

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Die Illusion der eigenen Weisheit und der Dunning-Kruger-Effekt

Der Glaube an den eigenen „gesunden Menschenverstand“ geht Hand in Hand mit einer tief verwurzelten kognitiven Verzerrung: der Selbstüberschätzung. Die meisten Menschen sind fest davon überzeugt, eine überdurchschnittlich gute Urteilskraft zu besitzen. Dieses Phänomen wurde durch die Psychologen David Dunning und Justin Kruger eindrucksvoll belegt. Im sogenannten Dunning-Kruger-Effekt beschrieben sie, dass inkompetente Menschen dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten – sei es in der Logik, im Schachspiel oder im Bereich des Humors – deutlich zu überschätzen. Sie sind nicht nur unfähig, eine Aufgabe korrekt zu lösen, sondern ihnen fehlt auch die metakognitive Fähigkeit, die eigene Inkompetenz überhaupt zu erkennen.

Diese Erkenntnis lässt sich direkt auf den „gesunden Menschenverstand“ übertragen. Wer sich ausschließlich auf sein Bauchgefühl verlässt, ohne sich mit Fakten oder tiefergehenden Zusammenhängen zu beschäftigen, fühlt sich oft bestens informiert. Sein einfaches, intuitives mentales Modell der Welt mag sich stimmig anfühlen, ist aber oft eine grobe Vereinfachung, die komplexe Realitäten ignoriert. Er glaubt, das Problem zu verstehen, weil seine Annahmen so „offensichtlich“ erscheinen – eine trügerische Sicherheit, die rationaler Analyse im Weg steht.

Der „gesunde Menschenverstand“ ist in den meisten Fällen eine Manifestation des schnellen System 1. Es arbeitet mit Heuristiken – mentalen Abkürzungen und Daumenregeln –, die zwar effizient sind, aber systematisch zu Fehlern führen können. Rationale Entscheidungen hingegen erfordern die bewusste Aktivierung des langsamen System 2. Sie basieren auf Daten, Logik und der Bereitschaft, die eigene Intuition zu hinterfragen. In diesem Sinne ist der „gesunde Menschenverstand“ nicht die Grundlage, sondern oft die erste Hürde, die es zu überwinden gilt, um zu einem wirklich rationalen Urteil zu gelangen.

Beispiele für das Scheitern des vermeintlich „gesunden“ Verstands

Die Geschichte und die Wissenschaft sind voller Beispiele, in denen der „gesunde Menschenverstand“ versagt:

  • Das Monty-Hall-Problem (ein Klassiker): Wenn von drei Türen zwei eine Ziege enthalten und eine ein Auto, denken wir intuitiv meist falsch: Nach der Öffnung einer „Ziegentür“ scheint ja nur noch eine Tür offen und eine Tür mit Auto. Logisch wäre es 50:50. Tatsächlich verdoppelt sich aber unsere Gewinnchance von 1/3 auf 2/3, wenn wir nach der ersten Wahl zur jeweils anderen Tür wechseln – ein Resultat, das gesunder Menschenverstand gern außer Acht lässt.
  • Die Erdumrundung: Für den „gesunden Menschenverstand“ der Antike war es eine offensichtliche Tatsache, dass die Erde eine flache Scheibe sei. Man konnte es mit dem bloßen Auge sehen. Es bedurfte wissenschaftlicher Methoden, astronomischer Beobachtungen und mathematischer Schlussfolgerungen, um diese augenscheinliche Wahrheit zu widerlegen. Die Flacherde-Anhänger sind gerade wieder auf dem intellektuellen Rückweg in die Steinzeit.
  • Fehleinschätzung von Risiken: Der „gesunde Menschenverstand“ schätzt Risiken oft dramatisch falsch ein. Die meisten Menschen haben mehr Angst vor einem Flugzeugabsturz oder einem Terroranschlag als vor einem Autounfall, obwohl die Statistik das Gegenteil beweist. Unser Gehirn bewertet die mediale Präsenz (die dramatische Darstellung eines Flugzeugabsturzes oder eines Anschlags) höher als die nüchternen Wahrscheinlichkeiten.
  • Komplexe soziale Systeme: Wenn es um Themen wie Klimawandel, Wirtschaft oder Pandemien geht, versagt der „gesunde Menschenverstand“ vollkommen. Er neigt zu simplen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen („Es ist kalt, also gibt es keinen Klimawandel“) und ignoriert komplexe statistische Modelle, wissenschaftliche Konsense und systemische Wechselwirkungen.
  • Konjunktionsfehlschluss (Linda-Problem): Die Mehrheit hält es intuitiv für wahrscheinlicher, dass Linda eine „feministische Bankangestellte“ ist, als nur eine „Bankangestellte“ – obwohl erstere Aussage stets seltener sein muss.
  • Spielerfehlschluss (Gambler’s Fallacy): Wer etwa fünfmal hintereinander Kopf geworfen hat, vermutet, es wäre „jetzt mal wieder Zahl dran“. Dabei sind die Münzwürfe völlig unabhängig. Solche Beispiele zeigen, dass manche logischen Regeln uns im Alltag gegen den Strich gehen. Denn viele Spieler glauben, nach einer Serie gleicher Karten oder Münzwürfe stünde nun „endlich“ die Gegenwahrscheinlichkeit an – eine Fehleinschätzung von Unabhängigkeit und Zufall.
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Und: Nicht alles, was gefährlich aussieht, ist es. Trotz intensiver Sicherheitschecks vor jedem Flug neigen wir dazu, Flugreisen zu überschätzen. Nach großen Abstürzen glauben wir, Fliegen sei jetzt „gefährlich“, weil uns die Bilder im Kopf hängen bleiben – wir überschätzen das Risiko „maßlos“ [8]. Psychologen nennen das Verfügbarkeitsheuristik: Dramatische Ereignisse wie Flugzeugunglücke erhöhen unsere mentale Verfügbarkeit dieser Bilder, und wir schätzen die Wahrscheinlichkeit über. Statistisch bleibt das Risiko aber extrem gering – im Gegensatz zur gefühlten Gefahr [9].

Oft beruhen diese Fehlurteile auf nichts weiter als schlichten Faustregeln. Der Mensch verfügt über mental eingeübte Heuristiken, die das Denken erleichtern – sie sind nützlich und schnell, aber nicht fehlerfrei. Kahneman und Tversky sammelten unzählige solcher Verzerrungen: Verkennung von Basisraten, Überschätzen seltener Ereignisse, Ignorieren von Zufallschancen… Dieses „Heuristics & Biases“-Forschungsprogramm brachte so viele Beispiele zutage, dass man von einer regelrechten Krise des Rationalitäts-Paradigmas sprechen kann. Die Psychologen Joseph Klayman und Robin Brown formulierten es pointiert: „What is wrong with the way people think, and what can be done to improve it?“ [10]. Auf andere Art formuliert: Unser gesunder Menschenverstand verführt uns mit trügerischer Einfachheit.

Absurd sind manchmal unsere Denkfehler, die sich im Alltag nicht sofort offenbaren. Wir vertrauen etwa auf eindrucksvolle Bilder statt auf Zahlen: So halten wir im Dunkeln lieber die Hand ans heiße Bügeleisen, weil es sich kalt anfühlt, statt zu glauben, dass darunter eine Kerze brennt (ein bekanntes Wahrnehmungsphänomen). Oder wir glauben, eine Kurschlusserklärung (einschließlich 17 exakter Zahlen) wäre wahrer, nur weil sie präziser klingt – selbst, wenn all diese Zahlen irgendwelche rhetorischen Tricks sind. In Wahrheit liegt oft genau dort der Fehler: Wir ahnen nicht, dass unser Hirn auf halbgarem Wissen basiert, das wir nie hinterfragen.

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Nein, die Illustration stellt nur eine vereinfachte Darstellung des Prinzips dar, nicht das eigentliche Experiment – aber sie basiert auf einem bekannten Wahrnehmungseffekt aus der Psychologie und Neurowissenschaft. Hier die Erklärung:

Das Phänomen: „Kältegefühl bei extremer Hitze“

Wenn du eine sehr heiße Metallfläche – etwa ein Bügeleisen – nur ganz kurz berührst, kann es passieren, dass dein Gehirn die Empfindung fälschlich als „kalt“ interpretiert. Dieses paradoxe Empfinden ist bekannt als „paradoxe Kälteempfindung“ (englisch: paradoxical cold).

Das klassische Experiment dazu (Kerze + Metall)

Ein Beispiel stammt aus der Temperaturforschung (u. a. Weber, von Frey, später auch in der Schmerzforschung bei Craig & Bushnell, 1994):

  1. Eine Metallplatte wird über einer Kerzenflamme extrem erhitzt.
  2. Ein Proband berührt die heiße Platte kurz mit den Fingerspitzen.
  3. Statt „heiß“ zu sagen, berichten viele Probanden von einem eisigen, beißenden Kältegefühl.

Warum passiert das?

Die Haut besitzt verschiedene Thermo- und Schmerzrezeptoren:

  • Kälterezeptoren können paradox aktiviert werden, wenn extreme Hitze eine sehr schnelle und starke Reizung verursacht.
  • Die Nervenleitung für „kalt“ ist schneller als die für „heiß“ – also wird die Kälte zuerst gemeldet.
  • Das Gehirn ist nicht perfekt kalibriert und macht eine „schnelle Schlussfolgerung“: „Oh, das muss kalt sein!“

Das ist ein Beispiel für sensorische Täuschung durch den „gesunden Menschenverstand“ des Nervensystems: Es zieht vorschnelle Schlüsse auf Basis von unvollständigen oder widersprüchlichen Reizen.

Quellenhinweise zu diesem Experiment:

  • Craig, A. D., & Bushnell, M. C. (1994). The thermal grill illusion: evidence for a supraspinal contribution to the perception of pain. Nature.
  • Green, B. G. (2004). Temperature perception and nociception. In The senses: A comprehensive reference.
  • Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow. (Kapitel über Wahrnehmungsverzerrung)

Kognitive Blindheit prägt Alltagssituationen. Der Confirmation Bias etwa lässt uns Nachrichten auswählen, die in unser Weltbild passen – das wissenschaftliche Gegenargument blenden wir aus, weil „es ja ohnehin klar ist“. Oder denken Sie an Einkaufsentscheidungen: Hören wir in einem Werbespot dauernd „umweltschonendes Recyceln“, leuchtet uns das plötzlich tiefer ein, als es müsste. Alles wirkte ja so plausibel, solange wir nicht nachrechnen. Der Ökonom Amartya Sen drückte es so aus: Vernunft in der Wirtschaft und im Leben muss über reinen Eigennutz hinausgehen – leider ignoriert unser Bauchgefühl diese Nuancen.

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Kahneman und Tversky brachten mit ihrer Prospect Theory das Fass zum Überlaufen: Sie zeigten, dass der klassische Homo oeconomicus – der rational denkende Nutzenmaximierer – in Reinform gar nicht existiert[11]. In vielen Experimenten handeln wir schlicht unvernünftig, indem wir Risiken stark unterschiedlich bewerten (etwa Verluste doppelt so stark wie Gewinne) [11]. Diese Erkenntnisse gelten weit über die Laborexperimente hinaus. Sie wurden so einflussreich, dass Kahneman 2002 als erster Psychologe mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. Es sei eine „Entzauberung“ des gesunden Menschenverstands gewesen: Er schuf Erklärungen für unser irrationales Handeln, wo die alte Ökonomie übertriebene Vernunft annahm.

Fazit: Mehr Demut, weniger Intuition

„Gesunder Menschenverstand“ hilft dabei, komplexe Entscheidungen zu vereinfachen, doch er ist keine Verheißung rationaler Klarheit. Er begegnet uns täglich als nützlicher Begleiter – darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass unser Urteilsvermögen systematisch fehlbar ist. Wer erkennt, dass Intuition oft irrt, schafft Raum für reflektierte, evidenzbasierte Urteilsbildung und echte Rationalität.

Der „gesunde Menschenverstand“ ist kein angeborener Sinn für die Wahrheit, sondern das, was uns schnell und unreflektiert als plausibel erscheint. Er ist geformt durch persönliche Erfahrungen, kulturelle Normen und die systematischen Fehler unseres Gehirns. Wer sich ausschließlich auf ihn verlässt, riskiert, seine eigene Ignoranz für Weisheit zu halten.

Wahre Rationalität erfordert einen anstrengenden, langsamen Prozess: die Bereitschaft, die eigene Intuition zu hinterfragen, nach Fakten zu suchen, wissenschaftliche Methoden zu respektieren und zuzugeben, dass man nicht alles weiß. Anstatt uns auf den Trugschluss eines „gesunden Menschenverstands“ zu verlassen, sollten wir uns die Tugend der Skepsis aneignen. Der wahre Fortschritt der Menschheit beruht nicht auf der Bestätigung des Offensichtlichen, sondern auf der mutigen Infragestellung dessen, was als selbstverständlich gilt.

Das alles ist mir bewusst. Trotzdem bin auch ich gegen all die Fallen, in die mein Denkapparat tappen kann, nicht gefeit. Ich diskutiere gerne und ausgiebig, aber in letzter Zeit immer „langsamer“ und mit dem Gedanken im Hintergrund, dass der/die andere trotz gegenteiliger Meinung recht haben könnte – auch wenn das sehr unwahrscheinlich wäre. *grins*

Und dann war da noch die Geschichte mit der Gerechtigkeit und dem „gesunden Gerechtigkeitsgefühl“ des Volkes. Das ist aber wieder eine andere Geschichte.

Quellen und weiterführende Literatur:

Kommentar (2)

  • Wolfgang| 08.08.2025

    Ich bin beeindruckt großer Meister. 👍 Sehr gut geschrieben und bestimmt aufwendig Recherchiert. Manche Passagen musste ich 2 x lesen, um es zu verstehen. Das mit dem verstehen war ein Scherz. Mein Gehirn wird wohl auch immer langsamer. Servus bis neulich 👍

  • AndyO| 09.08.2025

    Dein Kommentar freut mich sehr. Und was das zweimal Lesen betrifft: ich habe manche Passagen bis jetzt nicht verstanden. 🤔Aber die kannst du mir am Donnerstag erklären. 😂😂 Okay, das war auch ein Witz. CU

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