Strasse-von-Gibraltar-Hinter-1024x416 Mehr Demokratie wagen (Januar 2025)
Straße von Gibraltar in der Nähe von Tarifa

Es erscheint mir so, dass in der Gegenwart Autokratien auf dem Vormarsch sind. Der Ruf nach einem starken Mann, vielleicht auch Frau, an der Spitze des Staates wird in vielen Ländern wieder lauter. In Russland, Ungarn oder Rumänien, vielleicht bald in Österreich, sind Autokraten an der Macht. In alten Demokratien, wie den USA, aber auch Frankreich und Deutschland, werden Parteien verstärkt gewählt, die die Demokratie abschaffen und einen autoritären Staat mit einer starken Führungsperson an der Spitze als Herrschaftsmodell einführen wollen.

Die Wähler dieser Parteien begründen das mit diffusen Argumenten. So haben die bisherigen Parteien bei der Lösung der aktuellen Probleme versagt, ja, sie hätten diese Probleme sogar selbst herbeigeführt. Die Einschränkungen der Bürgerrechte während der Corona-Pandemie hätten deren wahres Gesicht gezeigt und sie als „Diktatoren“ entlarvt. Politiker (der Altparteien, des Establishments) wären ein faules Gesindel, die, ohne bisher eine Leistung gezeigt zu haben, auf Kosten des Steuerzahlers ein schlaues Leben führen und nur an den eigenen Profit und nicht an ihr Volk denken. Krude Verschwörungstheorien vervollständigen das Weltbild mancher „Wutbürger“.

Betrachtet man die gegenwärtige Situation oberflächlich, kann man diesen Argumenten auch durchaus etwas abgewinnen. Schnell findet man für jedes Argument ein Beispiel. Sobald man aber etwas tiefer in die Materie eintaucht, erkannt man genauso schnell, dass die Wirklichkeit wesentlich komplizierter ist und eigentlich genau das Gegenteil der populistischen Forderungen, die auch von einzelnen „Fähnchen im Wind“ aus den „demokratischen“ Parteien erhoben werden, umgesetzt werden müsste.

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Große Führer waren bisher noch nie eine dauerhafte Lösung von großen Problemen, sie waren eher die Auslöser von noch größeren Problemen. Namen wie Benito Mussolini, Adolf Hitler, Josef Stalin, Mao Zedong, Pol Pot …, die Liste ließe sich problemlos erweitern, stehen für diese Tatsache.

Demokratie ist eine schwierige Regierungsform. Entscheidungsprozesse sind langwierig durch viele Prozessbeteiligte. Kompromisse sind an der Tagesordnung. Außerdem entscheiden Menschen nicht rational, sondern emotional. Das ist zunächst nichts Schlechtes, in einer großen Gemeinschaft, wie einer Kommune oder einem Staat, kann das fatale Folgen haben. Denn emotionale Entscheidungen sind nicht immer optimal. Sie basieren auf einem subjektiven Bauchgefühl und nicht auf Fakten und der Realität der Mehrheit. Zudem sind Emotionen leicht zu beeinflussen. Niemand ist dagegen gefeit, und das sollte jedem bewusst sein.

Unser demokratisches System hat deshalb geordnete Verfahren zur sinnvollen Entscheidungsfindung eingeführt. So entscheiden nicht alle Bürger über alles, sondern sie wählen Abgeordnete, die diese Entscheidung für sie in parlamentarischen Abstimmungen übernehmen. Dass das in einer 84-Millionen-Gesellschaft sinnvoll ist, leuchtet wohl den meisten ein. Und natürlich werden die Abgeordneten nicht nur für eine Entscheidung, sondern für eine längere Zeitdauer gewählt, ebenfalls sinnvoll. Dieses Prozedere hat zwei augenfällige Vorteile: erstens muss sich nicht jeder über jedes Detailproblem, das zur Abstimmung steht, schlaumachen (und es gibt viele Details) und zweitens hat dadurch jeder genügend Zeit, sich um sein eigenes Alltags-Leben zu kümmern (Basisdemokratie ist sehr zeitaufwendig). Zudem müssen die Entscheidungen dem geltenden Recht entsprechen, unabhängige Gerichte können diese Entscheidungen überprüfen und gegebenenfalls für ungültig erklären.

Die Qualität eines solchen repräsentativen Demokratiemodells steht und fällt natürlich in erster Linie mit der Auswahl der Abgeordneten und mit dem Vertrauen, das das Wahlvolk den Abgeordneten entgegenbringt. Und hier sehe ich die zwei großen Probleme unserer deutschen Demokratie. Die Kandidaten werden in einem demokratischen Verfahren durch die Parteien nominiert. Sie sind aber dadurch auch ihrer Partei verpflichtet und entscheiden häufig im Parlament nicht nach rein rationalen Aspekten, sondern nach dem, was opportun für das Wohl der Partei ist. Auch wenn dies mit eloquenten Floskeln und ständigen Wiederholungen geschickt verdeckt werden soll, bleibt das vielen Wählerinnen und Wählern natürlich nicht verborgen und kann deren Vertrauen in die Unabhängigkeit und den fachlichen Sachverstand der Abgeordneten stören. Außerdem fördern die Mechanismen der Abgeordneten-Kür innerhalb der Parteien einen bestimmten Menschenschlag. Erfolgreiche Politiker können häufig mitreißend reden, aber auch bestens intrigieren. So kommt man in einer Partei leichter an die Töpfe der Macht, empathisches Verhalten und wirkliche Bürgernähe sind diesen Politikern aber fremd. Manche Politikerkarrieren starten schon an der Uni und führen dann direkt ins Parlament. Ein „normales“ Berufsleben wurde nie erlebt. Der Auftritt in sozialen Medien zu häufig irrelevanten, aber medial gehypten Themen ist wichtiger als der reale Auftritt im Lebensumfeld und die Lösung der wirklich bedeutsamen Problematiken. Inzwischen werden führende Politikerinnen bereits in Talkshows generiert, die sich dann eine eigene handverlesene und auf sie zugeschnittene Kaderpartei[1] formen.

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Einige Politiker agieren, als drehe sich die Welt nur um sie. Sie sind der Star, der Mittelpunkt der Show. Denn das Publikum wünscht sich das schließlich so, was auch teilweise stimmt. Aber gute Politiker müssten dieser Versuchung widerstehen, denn es geht hier nicht um sie, sondern um kluge und vernünftige Entscheidungen für unsere Gesellschaft für heute und die Zukunft. Populistische Sprüche erheitern das „einfache Volk“, mich natürlich manchmal auch. Sie sind aber wenig zielführend und demontieren in ihrer Gänze zudem unser demokratisches System. Anstatt zu erklären, wird verklärt, anstatt eine Lösung für ein Problem zu finden, werden Schuldige auf der anderen Seite gesucht. Der politische Aschermittwoch ist inzwischen eine ganzjährige Veranstaltung geworden.

Am Ende bleiben einige Probleme, werden manchmal sogar größer und die erreichten Lösungen werden kleingeredet oder ebenfalls problematisiert. Aber es muss jedem klar sein, dass jede Lösung in einer dynamischen Gesellschaft immer nur eine Lösung auf Zeit ist und sie generiert häufig Folgeprobleme. Die Aufgabe der Politik, zu der sie zurückfinden muss, ist aber das Versprechen, sich um die Probleme zu kümmern und zu versuchen, sie zu lösen.  Heilsversprechen einer problemlosen, strahlenden Zukunft mit einem großen Führer oder großen Führerin als Heiland sind eine populistische Lüge.

Aber eine solche Zukunft erwartet zumindest die Wählerschaft der „antidemokratischen“ Parteien. Nun ist klar, dass in einem modernen demokratischen Staat immer ein gewisser Anteil von „Antidemokraten“ vorhanden sein wird. Diese 15 % – 25 % muss eine funktionierende Demokratie aushalten können. Wie kann die Unzufriedenheit des potenziell demokratischen Restes vermindert werden? Ich glaube, vielen dieser Menschen fehlt es an dem Gespür, wie kompliziert und mühsam manche demokratische Prozesse ablaufen. Denn es fehlt ihnen an der Alltagserfahrung, weil sie im Alltag kaum demokratische Teilhabe leben und erleben können. In der Familie, Schule und vor allem im Beruf sind demokratische Strukturen nur sehr rudimentär vorhanden. 

Während in den „alten Bundesländern“ die Vereinskultur zumindest bis Ende des letzten Jahrtausends regen Zuspruch erhielt und sich viele hier in den Gremien der Vereine engagierten, war dies in den „neuen Bundesländern“ vor 1989 kaum möglich. Vereine sind demokratisch organisiert und sofern man sich in deren Verwaltung einbringt, lernt man schnell, dass eine Entscheidungsfindung häufig durch die Vielzahl der Meinungen und Argumente kein Leichtes ist. Leider ist das Engagement in den Vereinen in den vergangenen Jahrzehnten teilweise einer Konsumentenhaltung gewichen, „ich bezahle Beitrag, dafür habe ich ein Anrecht auf die Leistung ohne weitere Gegenleistung“. So funktioniert ein Verein natürlich nicht auf Dauer, wenn die Last der Verantwortung und Verwaltungsarbeit auf den Schultern weniger und immer der gleichen Personen bleibt. Häufig werden dann die Vereine von einer Art „Vereins-Aristokratie“ gelenkt, ein kleiner Personenkreis übernimmt oligarchisch die Führung, oder die Vereine lösen sich (schrittweise) auf. Demokratisches Verhalten lernt man dadurch ebenfalls nicht.

Im Berufsleben kann man Ähnliches beobachten. Hier ist die Organisation ohnehin eher „diktatorisch“ aufgebaut. Führungspersonen werden nicht gewählt, sondern bestimmt. Es gibt zwar Regeln, die aber ebenfalls wenig demokratisch sind. In den 70er Jahren des letzten Jahrtausends wurde zwar durch die Einrichtung von Betriebs- und Personalräten eine Gegenkraft zur Geschäftsleitung als Anwalt und Vertreter der Beschäftigten eingerichtet. Diese „Mitarbeiterparlamente“ haben sich aber inzwischen eher als zahnloser Tiger entpuppt, da die Macht der Gewerkschaften geschwunden und vor allem das Vertrauen in die Betriebsräte großer Konzerne durch zahlreiche Skandale erschüttert wurde. Die damalige politische Agenda unter Bundeskanzler Willy Brandt, „wir wollen mehr Demokratie wagen“, hat sich unter seinen Nachfolgern nicht fortgesetzt.

Regierungserklärung 1969, Willy Brandt Quelle: https://www.willy-brandt-biografie.de/quellen/videos/regierungserklaerung-1969-lang/ © Westdeutscher Rundfunk (WDR)

Ich rede hier also nicht von kleinen, mittelständischen Betrieben mit wenigen Beschäftigten. Die haben meiner Meinung nach eine Sonderstellung. Ich denke eher an Wirtschaftsbetriebe und Behörden mit mehr als 50 Mitarbeitern. Solche Organisationen sollten nach meiner Auffassung wieder neu demokratisiert werden, und zwar entschiedener als bisher durch Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsgesetze geregelt. Denn warum sollte ein Staat demokratisch organisiert sein, der Raum, in dem sich erwachsene Menschen aber am häufigsten nach dem eigenen Zuhause aufhalten, aber nicht. Das Arbeits- und Berufsleben bietet dazu viele Möglichkeiten. Größere privatwirtschaftliche Unternehmen befinden sich, wie der Name sagt, in Privatbesitz. Doch der Besitz eines Unternehmens impliziert nicht eine unumschränkte Macht, damit zu tun und zu lassen, wie es der Besitzer will. „Eigentum verpflichtet“ und „soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ (Artikel 14 GG). Das Streben nach Gewinnoptimierung oder möglichst großen Dividenden für Aktionäre darf deshalb auch für Privatbetriebe nicht das ausschließliche Unternehmensziel sein. Das wirtschaftliche Handeln dieser Betriebe muss sich an den Gesellschafts- und Staatszielen ausrichten.

Sicherlich gehört als eines dieser Ziele auch dazu, dass die Wirtschaft floriert, aber nicht auf die Kosten vieler und zum Vorteil weniger. Denn dass der Trickle-down-Effekt[2] nicht funktioniert, wird wohl nur noch von Vertretern der FDP und der Unternehmerlobby innerhalb der CDU bestritten. Eine vermehrte Mitverantwortung der Arbeitnehmer, aber auch weiterer gesellschaftlicher Gruppen, mit einer weitergehenden demokratischen Mitbestimmung bei der Unternehmensführung könnte zielführend sein. Es geht nicht um eine staatliche Lenkung, wie in einer Planwirtschaft, aber um eine transparentere Unternehmensführung, mit der Beteiligung der Betroffenen, die demokratischen Regeln unterliegt und auch das Allgemeinwohl im Blick behält. Denn so wie Aktiengesellschaften ihren Aktionären zur Transparenz verpflichtet sind, das wirtschaftliche Handeln darzulegen und zu begründen, sollten Unternehmen auch zur Transparenz gegenüber der Gesellschaft verpflichtet werden. Schließlich können große Privatunternehmen „too big to fail“ sein, also die Wirtschaft eines Staates oder sogar die Weltwirtschaft zum Wanken bringen. Die Rettung erfolgte, wie in der Bankenkrise 2008, mit Steuergeldern, gleichzeitig ist aber eine demokratische Kontrolle solcher Unternehmen nicht möglich, auch wenn Gesetze den Anschein geben, dass dies jetzt möglich sei. Das ist meiner Ansicht nach ein „Fehler im System“. Wer das Risiko[3] trägt, muss ein entsprechendes Mitspracherecht bei den relevanten Unternehmensentscheidungen bekommen. Sicherlich ein Mehr an Bürokratie, aber auch ein Mehr an Demokratie.

Bei Staatsbetrieben, also den Behörden und Ministerien im Bund, bei den Ländern und Kommunen, ist ein fehlendes Demokratieverständnis seltsamerweise noch evidenter. Hier gibt es zwar als Pendant zu den Betriebsräten die Personalräte, die aber weitaus weniger Möglichkeiten zur demokratischen Partizipation haben. Hier wird vieles über eng auszulegende Regeln geordnet. Eine fallbezogene, individuelle und sachgerechte Lösung von Problemen vor Ort wird aber eher behindert und der Einzelne im Prozess zu einem Zahnrad ohne eigene Wirkmacht im Getriebe degradiert. Hierarchien und Handelnde werden von oben vorgegeben. Sinnvoller wäre es, einen großen ordnenden Rahmen vorzugeben, innerhalb dessen noch eine große Gestaltungsmöglichkeit für die Handelnden möglich wäre. Denn dies würde die demokratische Kompetenz der Einzelnen stärken und ein Verständnis für das „große Ganze“ ermöglichen. Kompromisse als Grundlage einer aus verschiedenen Forderungen zu formenden Lösung sind in einer demokratischen Organisation an der Tagesordnung.

Momentan scheint sich das Rad der Geschichte jedoch in die andere Richtung zu drehen. Die Macht der Arbeitnehmervertretungen und der gesellschaftlichen Gruppen wie Natur- und Umweltschutz wird zugunsten von Stakeholder-Profit und schlanker Verwaltungsorganisation geschwächt. In den USA möchte der designierte Präsident den Staat in einen vom ihm geleiteten Wirtschaftsbetrieb nach rein wirtschaftlichen Aspekten umformen. Das Allgemeinwohl spielt keine Rolle, es werden „Deals“ gemacht, bei denen nur er als Gewinner hervorgehen darf („America[=Trump] first“). Minderheitenrechte und Umweltschutz sind irrelevant, nachhaltiges Verhalten wird diffamiert und wissenschaftliche Erkenntnisse werden geleugnet oder als ideologisch begründet abgelehnt.

Um unseren demokratischen Rechtsstaat zu schützen und dessen Akzeptanz zu fördern, sind also viele Maßnahmen notwendig, die ich, wenn auch wenig detailliert, oben angerissen habe. Ein Druck zur Veränderung muss von der Gesellschaft zunächst auf unsere Politiker ausgeübt werden, damit sich der Politikbetrieb in die richtige Richtung entwickelt. Denn diese Politiker müssen dann perspektivisch die weiteren Schritte vorantreiben. Die Wähler müssen wieder umfassendes Vertrauen in staatliche Handlungen fassen können. Die Glaubwürdigkeit der Handelnden ist das A und O, um dies zu erreichen. Insbesondere die Transparenz der Entscheidungen muss durch geeignete Maßnahmen flankiert werden: Lobbyregister, Informationstransparenz, Haftung ab grob fahrlässigen Fehlentscheidungen, strenges Vorgehen bei korrupten Verhalten der Führung (anstelle der Schikanen im Mikrohandeln der Verwaltung[4]), Bestrafung von Lügen (Fake News) bei der Verbreitung durch Abgeordnete, Regierung und Medien zur Meinungsmanipulation.

Sobald die Politik wieder entsprechenden Rückhalt in der Bevölkerung hat, kann die Demokratisierung der Wirtschaft, des Arbeitslebens und weiterer gesellschaftlicher Bereiche wie beschrieben vorangetrieben werden und wir können mutig und optimistisch gestimmt „wieder mehr Demokratie wagen“.

 


[1] Wikipedia: Kaderpartei

[2] Der Trickle-down-Effekt beschreibt die Überzeugung, dass der Wohlstand der Reichsten einer Gesellschaft allmählich durch Konsum und Investitionen in die unteren Schichten der Gesellschaft durchrieseln und so zu Wirtschaftswachstum führen würde, von dem dann alle profitieren. (Quelle: Wikipedia)

[3] Arbeitsplatzverlust, Umweltschäden, Steuergeldzuschüsse, …

[4] Natürlich muss auch hier Korruption verfolgt werden, aber Geschenke, die in der Privatwirtschaft üblich sind, dürfen in der öffentlichen Verwaltung nicht unnötigerweise kriminalisiert werden.

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