Warum ist es sinnvoll, in einem ordnenden Staat zu leben? Menschen könnten schließlich ohne ordnende und regelnde Strukturen in einer anarchischen Welt leben. Aber würde das funktionieren? Wohl kaum, mir ist jedenfalls keine Gesellschaft bekannt, in der ein solches System über einen längeren Zeitraum funktionierte oder noch funktioniert. Anarchische Systeme scheinen also eine nicht funktionierende Gesellschaftsform zu sein. Dann stellt sich die Frage, inwieweit ordnende Kräfte einer gesellschaftlichen Ordnung, im Folgenden als Staat bezeichnet, in das Leben der Gesellschaftsmitglieder eingreifen sollten. Meiner Meinung nach ist es nur insoweit einem gedeihlichen Zusammenleben der Mitglieder förderlich. Soweit werde ich wohl mit vielen Zeitgenossen übereinstimmen, außer denen, die ein völkisches oder klassengeprägtes Weltbild haben. Diese Gruppen wollen einen starken Staat, der alle Bereiche des Lebens entsprechend ihrer Ideologie regelt, behaupten aber gleichzeitig, dass sie den aktuellen Staat ablehnen, ja verachten, weil er sie zu stark einschränke. Diese Sichtweise werde ich im Folgenden nicht betrachten, da sie meiner Meinung nach keine erfolgreiche Strategie des Zusammenlebens größerer Menschengruppen darstellt (siehe erste Hälfte des 20. Jhd.).

20250208_144616-Kopie-517x1024 Hat der freiheitlich demokratische Staat seine Existenzberechtigung verloren? (Februar 2025)

Die Grundlage meines Staatsverständnisses basiert auf der Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte, einem Rechtssystem, das für alle bindend und bekannt ist, sowie der Ächtung von Gewalt gegen Mitmenschen in allen Ausprägungen, soweit diese ebenfalls gewaltlos agieren. Ein Staat sollte aber vor allem die Lebensqualität der Einzelnen verbessern oder erhalten. Dies ist wohl die schwierigste Aufgabe eines Staates. Denn ein Staat agiert nicht im luftleeren Raum, sondern in einer Gemeinschaft aller auf dieser Erde vorhandenen Staaten und Gemeinschaften. Damit ist er in seinen Handlungen fast immer durch die Rückkopplungen aus diesen Systemen eingeschränkt. So kann insbesondere eine weltweite Wirtschaftskrise nicht durch nationale Entscheidungen rückgängig gemacht werden. Durch kluge Entscheidungen können die inländischen Auswirkungen einer solchen Krise im besten Fall abgemildert werden. Eine Abschottung nach außen könnten sich stark unterentwickelte, aber wirtschaftlich autarke Staaten leisten. Aber selbst Nordkorea ist von chinesischen Hilfeleistungen abhängig.

Wir brauchen also politisch Handelnde, die in der komplexen Welt mit vielen Playern möglichst ausgereifte Entscheidungen für die Gegenwart und die Zukunft treffen. Menschen, die in einem freiheitlichen politischen System leben, trachten in der Mehrheit nur noch nach einer materiellen Verbesserung ihrer Lebensumstände. Die immateriellen Umstände sind bereits ausgezeichnet. Sie werden als gegeben und selbstverständlich hingenommen. Dem ist aber nicht so. Denn in einer komplexen Gesellschaft gibt es unterschiedlichste Mitglieder mit unterschiedlichen Zielen. Ein kapitalistisches System, wie das unsere in Deutschland, hängt vor allem von einer funktionierenden Wirtschaft ab. Der Lebensstandard und die monetären Handlungsspielräume sind ein direktes Abbild deren Leistungsfähigkeit. „Schwächelt“ die Wirtschaft, werden die monetären Ressourcen knapper und die Verteilung dieser Ressourcen wird genau betrachtet. Die gesellschaftlichen Gruppen versuchen jetzt aggressiver, sich ein größeres (weil kleiner gewordenes) Stück vom Kuchen zu holen. Jetzt spielen Machtverhältnisse eine noch wichtigere Rolle als vorher und die oben erwähnten politisch Handelnden ebenfalls.

Die naheliegendste Reaktion der Politik bei einer konjunkturellen Krise ist natürlich, die Wirtschaft durch entsprechende Programme anzukurbeln. Doch welche Programme sind sinnvoll und vor allem dauerhaft hilfreich? Steuersenkungen, Subventionen, Bürokratieabbau, staatliche Konjunkturprogramme, die Werkzeugkiste der Politiker ist groß und unüberschaubar. Was in der letzten Krise hilfreich war, kann in der momentanen Krise genau das falsche sein, oder umgekehrt, denn die Welt hat sich inzwischen „weitergedreht“. Kurzfristige wirtschaftliche Erfolge können wenig nachhaltig sein und in wenigen Jahren bereits ins Gegenteil umschlagen. Das Beharren auf alten Technologien, um so die Umstellungskosten zu sparen, bringt kurzfristig positive Bilanzen, in Zukunft aber den Untergang ganzer Industrien.  Wer weiter auf Verbrenner-Motoren für Deutschland setzt, wird in naher Zukunft wieder „mit dem Pferdefuhrwerk“ unterwegs sein (sehr nachhaltig). Der Rest der Welt fährt elektrisch, mit chinesischen Autos.

Und wer als Lösungsansatz nur auf die Förderung der Wirtschaft setzt, springt meiner Meinung nach zu kurz oder hat andere Interessen als den Erhalt eines funktionierenden Sozialstaates, wie im zweiten Absatz beschrieben. Große Bevölkerungsgruppen sind von staatlichen Transferleistungen abhängig. Nicht nur Bürgergeld (oder wie die frühere Sozialhilfe heute verschleiernd genannt wird) oder Arbeitslosengeld, auch Kinder- und Krankengeld, Steuerfreibeträge für Familien und Ähnliches sind hier gemeint. Man kann über den Sinn oder Unsinn solcher Zahlungen natürlich lange und ausführlich diskutieren, grundsätzlich gilt, dass es in jeder Gesellschaft und Weltanschauung seit dem Altertum Transferleistungen, damals Almosen oder mildtätige Gaben, gab. In einer sozialen Marktwirtschaft und freiheitlichen Demokratie wurde dieses Prinzip als staatliche Aufgabe optimiert. Der Leistungsfähige ernährt den (aktuell oder dauerhaft) Leistungsunfähigen mit. Die Verteilung übernimmt der Staat nach transparenten Regeln, die regelmäßig zur Diskussion stehen.

So muss bei der Verteilung der vorhandenen Gelder darauf geachtet werden, dass keine gesellschaftliche Gruppe vergessen oder bevorzugt wird, um soziale Konflikte zu vermeiden. Außerdem, und das ist besonders wichtig, müssen die geltenden Regeln immer wieder erklärt, hinterfragt und nachjustiert werden, um die Sinnhaftigkeit, Gerechtigkeit und Belastungsfähigkeit der beteiligten Gruppen zu begründen. Diesen Ausgleich zu finden, ist das Tagesgeschäft der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Keine leichte Aufgabe, und die Lösungsansätze sind häufig ideologisch oder neutraler, weltanschaulich gefärbt. Das ist aber gut so, denn in einer freiheitlichen Demokratie sollten die Ideen miteinander konkurrieren, um eine möglichst passende Lösung zu finden, mit der die meisten Beteiligten „auf Dauer leben können“ (siehe auch: Mehr Demokratie wagen). Dieser Mechanismus muss meiner Meinung nach erhalten und gestärkt werden, um auch in Zukunft in einer Gesellschaft zu leben, in der jeder Einzelne möglichst viel Freiheit bei seiner Lebensgestaltung und relativem Wohlstand hat, ohne Bevölkerungsgruppen zu unterdrücken oder gar zu eliminieren. Primär gelten die allgemeinen Menschenrechte!

Auch wenn weltweit der freiheitlich demokratische Rechtsstaat auf dem Rückzug scheint und kleptokratische und autoritär-mafiösische Regierungsformen auf dem Vormarsch sind, sollten wir versuchen, unsere Staatsform zum Wohl einer großen Mehrheit zu erhalten und zu stärken. Diese Aufgabe sollten unsere Politiker erkennen und auch im aktuellen Wahlkampf bei allen Streitpunkten nicht vergessen. Den politischen Gegner mit Argumenten zu attackieren ist erlaubt, zu diffamieren ist aber kontraproduktiv und stärkt am Ende nur die Parteien am Rande des politischen Spektrums, die versuchen, ihre eigene antidemokratische Agenda mit ähnlichen demagogischen Methoden durchzusetzen. Nur in einer starken Demokratie sind der Wohlstand und die Zufriedenheit vieler auf Dauer gesichert.

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