Die Idee der Gleichheit aller Menschen führt zwangsläufig zu einer Reflexion über die Rolle von Nationen und nationalen Identitäten. Wenn alle Menschen gleich sind, stellt sich die Frage, warum Menschen innerhalb nationaler Grenzen bevorzugt behandelt werden sollen – sei es durch bessere Rechte, wirtschaftliche Privilegien oder stärkere politische Mitspracherechte.

Ein erster und konsequenter Schritt in Europa wäre die Überwindung der Nationalstaaten und die Einführung einer einheitlichen europäischen Staatsbürgerschaft und die Abschaffung der nationalen Staatsbürgerschaften. Dieser Prozess könnte als Vorbild für eine globale Entwicklung hin zu einer Menschheitsgemeinschaft dienen – eine wünschenswerte Utopie. Doch wie lässt sich dieser Gedanke umsetzen? Welche Hindernisse müssen überwunden werden? Und welche Vorteile könnten daraus entstehen?

sonnenuntergang-mit-andy-678x1024 Von nationaler Identität zu einer globalen Gemeinschaft
Wie könnte die Zukunft Europas aussehen?

Die Idee einer einheitlichen europäischen Staatsbürgerschaft

Die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft in der oben aufgeführten Ausprägung würde bedeuten, dass die einzelnen Nationalstaaten ihre politische und rechtliche Souveränität aufgeben und Europa als einheitliche Rechts- und Gesellschaftsordnung anerkannt wird. Jeder Bürger eines europäischen Landes wäre dann primär Europäer, nicht mehr Deutscher, Franzose oder Italiener.

Die Idee wäre, dass europäische Bürger:

  • gleiche Rechte und Pflichten genießen, unabhängig davon, in welchem Teil Europas sie leben,
  • freie Wahl des Wohnorts und Arbeitsplatzes innerhalb Europas haben, ohne diskriminiert zu werden,
  • von gemeinsamen sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Standards profitieren, die für alle gelten.

Eine solche Entwicklung könnte dazu beitragen, Ungleichheiten zwischen den Nationen abzubauen, Konflikte zu minimieren und die Zusammenarbeit zwischen den Ländern zu stärken. Bevor ich auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzung meiner Idee eingehe, ein kurzer Exkurs zum Thema Nation und Nationalstaat.

Der Nationalstaat: Eine Erfindung der Neuzeit

Der Nationalstaat, wie wir ihn heute kennen, ist ein historisches Konzept, das eng mit der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Neuzeit verknüpft ist. Anders als ältere Formen von Herrschaft – wie Stammesverbände, Stadtstaaten oder Imperien – ist der Nationalstaat ein relativ junges Konstrukt, das sich erst in den letzten 200 bis 300 Jahren etabliert hat.

Die Entstehung des Nationalstaats

Der Nationalstaat basiert auf der Idee, dass eine Nation – verstanden als Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamer Sprache, Kultur, Geschichte oder Abstammung – innerhalb eines festgelegten Territoriums politische Souveränität ausübt.

Seine Ursprünge lassen sich auf folgende historische Entwicklungen zurückführen:

  1. Der Westfälische Frieden (1648): Dieses Ereignis beendete den Dreißigjährigen Krieg und gilt als Geburtsstunde des modernen Souveränitätsbegriffs. Staaten wurden erstmals als unabhängige, gleichberechtigte Einheiten anerkannt.
  2. Aufklärung und Französische Revolution (18. Jahrhundert): Die Aufklärung propagierte die Idee der Volkssouveränität, also dass die Macht vom Volk ausgeht. Mit der Französischen Revolution (1789) wurde der Gedanke konkret, dass die Nation als Einheit selbst über ihre Geschicke entscheiden sollte.
  3. Nationalismus im 19. Jahrhundert: Der Nationalismus breitete sich im Zuge der industriellen Revolution und des wachsenden Bildungsbürgertums aus. Viele Bewegungen – etwa in Italien oder Deutschland – führten zur Bildung von Nationalstaaten, die sich auf ein gemeinsames nationales Bewusstsein stützten (z. B. die Reichsgründung 1871).
  4. Kolonialismus und Dekolonialisierung: Im 19. und 20. Jahrhundert führten koloniale Bestrebungen zur künstlichen Schaffung von Staaten, während die Unabhängigkeitsbewegungen des 20. Jahrhunderts wiederum dazu führten, dass viele Nationalstaaten auf Grundlage ethnischer oder kultureller Gemeinschaften entstanden.

Viele Nationalstaaten sind jünger als 200 Jahre

Ein Großteil der heutigen Nationalstaaten wurde erst im 19. und 20. Jahrhundert gegründet. Beispiele sind:

  • Deutschland (1871): Vor der Reichsgründung existierten zahlreiche unabhängige Fürstentümer und Königreiche.
  • Italien (1861): Italien war bis zum Risorgimento in viele Kleinstaaten zersplittert.
  • Indien und viele afrikanische Staaten (20. Jahrhundert): Viele Nationalstaaten entstanden nach der Dekolonialisierung in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Wobei Indien wie auch Nigeria oder Kamerun (und sicherlich einige Länder mehr) keine Nationalstaaten im eigentlichen Sinne sind, da hier verschiedenste Ethnien und Sprachgruppen in einem Staatsgebilde zusammenleben.

Vor der Entstehung der Nationalstaaten war die politische Landschaft von Imperien (z. B. Habsburgerreich, Osmanisches Reich) und lockeren Stadtstaaten geprägt. Das Konzept einer „Nation“ als geschlossener, homogener Einheit, die ein Territorium regiert, war weitgehend unbekannt.

Der Nationalstaat als Konstruktion

Der Nationalstaat ist kein „natürliches“ Gebilde, sondern ein künstliches Konzept, das auf politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Interessen basiert. Oft wurden nationale Identitäten aktiv geschaffen oder verstärkt, etwa durch:

  • Gemeinsame Sprache: Bildungssysteme standardisierten Dialekte und prägten eine einheitliche Sprache.
  • Geschichtserzählungen: Nationale Mythen und Helden wurden geschaffen, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern, z. B. die des Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell oder die von Hermann dem Cherusker.
  • Grenzziehungen: Grenzen wurden häufig willkürlich festgelegt, insbesondere während der Kolonialzeit. Betrachtet man die Landkarte von Afrika oder im Nahen Osten, sieht man die schnurgeraden Grenzlinien, die mit dem Lineal der Kolonialherren gezogen wurden.

Kritik am Nationalstaat

Der Nationalstaat steht immer wieder in der Kritik, da seine Konstruktion oft ausschließend wirkt. Insbesondere Minderheiten, die nicht zur „Mehrheitsnation“ gehören, wurden in der Geschichte häufig diskriminiert oder marginalisiert. Beispiele hierfür sind die Vertreibungen von ethnischen Gruppen oder die Unterdrückung von Minderheitensprachen. Der Holocaust wäre ohne die Überhöhung und Einengung des Nationenbegriffs nicht möglich gewesen.

Zudem wird der Nationalstaat in einer globalisierten Welt zunehmend hinterfragt. Globale Herausforderungen wie Klimawandel, Migration oder wirtschaftliche Verflechtungen erfordern grenzüberschreitende Kooperationen, die die Fixierung auf nationale Interessen erschweren.

Fazit des Exkurses

Der Nationalstaat ist ein junges, menschengemachtes Konzept, das in der Neuzeit aus spezifischen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnissen hervorgegangen ist. Während er in der Vergangenheit ein stabilisierendes und identitätsstiftendes Element war, betrachte ich seine Rolle in einer globalisierten und diversifizierten Welt zunehmend kritisch. Deshalb stelle ich die Frage, ob die Zukunft nicht eher in supranationalen oder globalen Strukturen liegt, die die Idee der Gleichheit aller Menschen konsequenter umsetzen. Der Nationalstaat war ein Schritt, um aus der Herrschaft von kleinen Eliten zu einer Regierungsform, die die Teilhabe aller ermöglicht. Die Problematik der Abschaffung der Nationalstaaten will ich im Folgenden betrachten.

Hindernisse und Gegenargumente

Die Abschaffung der Nationalstaaten und die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft wären ein tiefgreifender Wandel, der gut überlegt und nicht übereilt geplant werden müsste. Zahlreiche Hindernisse und Kritikpunkte wären zu berücksichtigen:

  1. Nationale Identitäten und kulturelle Unterschiede

Viele Menschen fühlen sich stark mit ihrer Nation, ihrer Geschichte, Sprache und Kultur verbunden. Sie empfinden diese Identität als Teil ihrer Persönlichkeit und sind skeptisch gegenüber einer „europäischen Identität“, die ihnen abstrakt und fremd erscheint. „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.“ Dieser Satz, so schrecklich dumm ich ihn auch finde, spendet vielen Zeitgenossen Trost in der immer komplexer werdenden Welt und deren schwer zu durchschauenden Strukturen. Als Angehöriger einer „erfolgreichen“ Nation der Deutschen fühlen sie sich als Miterfinder des Autos, der sozialen Marktwirtschaft und als fleißige Mitarbeiter des deutschen Wirtschaftswunders. Mit der Naziherrschaft haben sie seltsamerweise nichts zu tun, also zumindest nichts mit „der schlechten Seite“. Und gleichzeitig sind die Angehörigen der anderen deutschen „Bevölkerungsgruppen“ natürlich auch nicht so toll wie die eigene, Tribalismus in der Urform, aber auch menschlich. Warum Österreicher und Deutsch-Schweizer oder Deutsch sprechende Südtiroler keine Deutschen sind, hat sich mir nach dieser Logik auch nicht erschlossen. Und „Ich bin froh, Deutscher zu sein“, ich habe aber nichts dafür getan, sondern wurde ohne mein Zutun mit dieser Staatsbürgerschaft geboren.

  1. Verlust nationaler Souveränität

Die Nationalstaaten müssten ihre Entscheidungsgewalt über wichtige Bereiche wie Steuern, Bildung, Sozialpolitik oder Verteidigung an eine überstaatliche Instanz abtreten. Dies ruft oft Ängste hervor, da Bürger befürchten, dass ihre spezifischen Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden. Eine Stärkung der Regionen mit einer Übertragung von Kompetenzen und Regelungsmöglichkeiten für geeignete Themengebiete im Rahmen der allgemeingültigen Gesetze würde den Verlust des Nationalstaats mehr als ausgleichen.

  1. Wirtschaftliche Ungleichheiten

Die Länder Europas sind wirtschaftlich sehr unterschiedlich entwickelt. Länder mit starken Wirtschaften, wie Deutschland, könnten befürchten, stärker belastet zu werden, während ärmere Länder die Sorge haben, benachteiligt oder abhängig zu bleiben. Dieses Problem tritt bereits in Nationalstaaten wie Deutschland auf, wenn beim Länderfinanzausgleich Länder wie Bayern oder Baden-Württemberg auf ihre Stellung als Bruttozahler hinweisen.

  1. Politischer Widerstand

Nationale Politiker und Parteien, insbesondere populistische Bewegungen, werden sich gegen eine solche Entwicklung stellen, da sie darin eine Bedrohung für ihre Machtpositionen und für die Souveränität ihrer Länder sehen. Schon heute wird die Europäische Union von Populisten für alle Probleme in Europa verantwortlich gemacht, während die immensen Erfolge und Verbesserungen für sie nur auf nationale Initiativen zurückzuführen sind. Dass die Union im Kleinen und Großen immense Fortschritte und einen großen Wohlstand gebracht hat, wird nicht gesehen oder geleugnet.

  1. Skepsis gegenüber zentralisierten Strukturen

Eine einheitliche europäische Regierung könnte als bürokratisch und abgehoben wahrgenommen werden, ähnlich wie die EU heute von manchen Bürgern kritisiert wird. Menschen befürchten, dass Entscheidungen weniger demokratisch oder weniger transparent werden könnten. Diese Kritik ist berechtigt und erfordert einen radikalen Umbau der EU-Strukturen zur Entscheidungsfindung und -umsetzung. Die vielen politischen Skandale in vielen europäischen Ländern bereiten für eine solche abwehrende Haltung eine perfekte Begründung. Politisches Handeln müsste in allen Phasen wesentlich transparenter und damit nachvollziehbarer werden. Auch müsste die Sensibilität für Korruption und Amtsmissbrauch wesentlich verbessert werden. Die Rechtsfindung und -sprechung dürften nicht von finanziellen Möglichkeiten oder politischen Zugehörigkeiten abhängig sein. Künstliche Intelligenz könnte richtig eingesetzt eine „Waffengleichheit“ vor Gericht ermöglichen, das ist aber eine andere Geschichte, ich bin etwas abgeschweift.

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Die Vorteile einer europäischen Staatsbürgerschaft

Trotz der Hindernisse bietet die Abschaffung der Nationalstaaten und die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft zahlreiche Vorteile:

  1. Förderung von Frieden und Stabilität

Nationalstaaten waren in der Geschichte oft Ursache von Konflikten und Kriegen. Eine einheitliche europäische Staatsbürgerschaft könnte die Grundlage für einen dauerhaften Frieden schaffen, da die Menschen ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl entwickeln.

  1. Abbau von Ungleichheiten

Gemeinsame Standards in den Bereichen Sozialpolitik, Bildung und Wirtschaft könnten die Kluft zwischen reichen und armen Regionen Europas verkleinern und mehr Chancengleichheit schaffen.  Die Besteuerung würde dann nach gleichen Regeln erfolgen.

  1. Erleichterung der Mobilität

Menschen könnten sich innerhalb Europas frei bewegen, ohne bürokratische Hürden wie unterschiedliche Steuersysteme, Rentenregelungen oder Aufenthaltsgenehmigungen zu überwinden.

  1. Stärkung Europas in der Welt

Ein geeintes Europa hätte eine stärkere Stimme in globalen Angelegenheiten. In einer Welt, die von großen Mächten wie den USA, China und Indien geprägt wird, könnte Europa nur vereint politisch und wirtschaftlich konkurrenzfähig bleiben.

  1. Förderung einer globalen Denkweise

Die Abschaffung der Nationalstaaten wäre ein Schritt hin zu einer Denkweise, die den Fokus vom nationalen Interesse auf das Wohl der gesamten Menschheit legt. Dies könnte besonders in globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Migration oder Armut hilfreich sein.

Mögliche zukünftige Weiterentwicklung

Die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft könnte der erste Schritt auf dem Weg zu einer globalen Gemeinschaft sein. Langfristig könnten ähnliche Entwicklungen in anderen Weltregionen stattfinden, etwa in Afrika, Asien oder Amerika.

  1. Entwicklung einer globalen Regierung

Eine weltweite Gemeinschaft könnte sich in Form einer globalen Regierung manifestieren, die Themen wie Frieden, Klimaschutz und globale Gerechtigkeit koordiniert. Nationale und regionale Identitäten könnten in einem föderalen System erhalten bleiben, ähnlich wie heute in Deutschland, wo Bundesländer mit ihren eigenen Kompetenzen existieren.

  1. Schutz kultureller Vielfalt

Obwohl nationale Grenzen abgeschafft werden könnten, müsste auf kulturelle Unterschiede im Rahmen der Rechtsordnung Rücksicht genommen werden. Dies könnte durch die Förderung regionaler Sprachen, Bräuche und Traditionen geschehen.

  1. Förderung einer globalen Identität

Bildungssysteme könnten stärker darauf abzielen, die Menschen für die Bedeutung der globalen Gemeinschaft zu sensibilisieren. Kinder und Jugendliche könnten lernen, ihre Identität nicht nur in ihrer Herkunft, sondern auch in ihrer Zugehörigkeit zur Menschheit zu sehen.

Schlussbetrachtung

Die Abschaffung der Nationalstaaten und die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft wären ein radikaler, aber potenziell sehr positiver Schritt in Richtung einer friedlicheren und gerechteren Welt. Obwohl Hindernisse wie nationale Identitäten, wirtschaftliche Ungleichheiten und politischer Widerstand überwunden werden müssten, könnten die Vorteile – Frieden, Gleichheit und globale Zusammenarbeit – die Mühen rechtfertigen. Die gleichzeitige Stärkung von regionalen Identitäten – Stichwort Bayern, Basken, Katalanen – würde menschlichen Grundbedürfnissen entgegenkommen und so die Akzeptanz erhöhen.

Langfristig könnte dies der Ausgangspunkt für eine weltweite Bewegung hin zu einer Menschheitsgemeinschaft sein, die das Wohl aller Menschen über die Interessen einzelner Nationen stellt, ohne dabei die kulturelle Vielfalt und die individuellen Bedürfnisse zu vernachlässigen.

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